Zum Inhalt springen

Feministische Zeitpolitik – Visionen für bessere Zeiten

„Der beste Zeitpunkt, die Zukunft zu gestalten, ist jetzt“

Montagmorgen, 6 Uhr, der Wecker läutet, die Kinder wollen Frühstück, der Hund muss Gassi und die Arbeitstasche griffbereit stehen. Ein Handgriff geht automatisiert dem nächsten voraus. Kaffee, verschüttet, Stress ... Stopp!

Der Fachkräftemangel in den unterschiedlichsten Berufsbranchen sorgt bundesweit für hitzige Debatten. Und in Zukunft ist durch den demografischen Wandel eine Verschärfung zu erwarten. In der Debatte kommt ein Aspekt allerdings zu kurz, argumentiert der DGB. Vielfach sind schlechte Arbeitsbedingungen ausschlaggebend dafür, dass Beschäftigte Berufe verlassen oder gar nicht erst ergreifen. Und zu diesen Arbeitsbedingungen gehören nicht zuletzt Arbeitszeit und Arbeitsverdichtung.

 

Arbeitsverdichtung und eine enge Taktung erschweren den Berufsalltag. Erschöpfung in seinen multiplen Ausprägungen führt dazu, dass Freude und Spaß an der Arbeit zurückgedrängt werden. Aus Sicht der gewerkschaftlichen Frauen-, Gleichstellungs- und Geschlechterpolitik ist zu beobachten, dass Druck und Stress mit ihren physischen und psychischen Auswirkungen primär auf den Schultern derer lasten, die Sorgeverantwortung übernehmen – beruflich und privat – und führen letztlich im Bildungssektor zu Qualitätseinbußen von Lehrinhalten, Betreuung und Förderung. Als Bildungsgewerkschaft nehmen wir beides in den Blick, sowohl den Arbeits- und Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz als auch die Voraussetzung für gute Bildung. Die Herausforderungen, denen wir auf dem Weg begegnen, dürfen dabei niemals individualisiert werden, sondern zeigen sich als gesamtgesellschaftliches Phänomen unserer Zeit. Zeit für uns, Antworten zu liefern.

 

Feministische Zeitpolitik 

„Zeit zu leben, Zeit zu arbeiten – Zeit, die unbezahlte und die bezahlte Sorgearbeit in den Blick zu nehmen“ heißt der Leitsatz des GEW-Diskussionspapiers „Feministische Zeitpolitik“, das im Mai 2021 vom Hauptvorstand beschlossen wurde. Mit dem Papier umreißt die GEW, wie gesellschaftliche Zeitstrukturen umgestaltet werden können und was der gewerkschaftliche Beitrag dazu ist. Es geht um die verschiedenen Lebensaufgaben, um die Umgestaltung des Verhältnisses von bezahlter und unbezahlter Arbeit, der Erwerbsarbeit und der Sorgearbeit und ihre Verteilung zwischen den Geschlechtern.

Die GEW setzt sich für eine feministische Zeitpolitik ein, die eine Gesellschaft ohne Stereotypen und Rollenzuschreibungen ermöglicht. Hierin betonen wir, dass Care-Arbeit (Sorgearbeit) als Grundlage für Erwerbsarbeit anerkannt werden muss und dass eine gerechte Verteilung der Sorgearbeit zwischen den Geschlechtern notwendig ist. Care-Arbeit wird weiterhin überwiegend von Frauen geleistet, wohingegen eine partnerschaftliche Teilung der Sorgearbeit entscheidend für die Chancengleichheit von allen Geschlechtern auf dem Arbeitsmarkt ist.

 

Zeit umfairteilen

Die Forderung des DGB und der GEW steht schon lange auf der Agenda: Zeit muss dringend umverteilt werden. Der Pay-Gap, also der Lohnunterschied zwischen den Geschlechtern, und der Pension-Gap, also der Renten- und Pensionsunterschied zwischen den Geschlechtern – sprich die geschlechtsspezifische Lücke beim Lohn und damit bei der Rente –, gehen Hand in Hand mit der ungleichen Verteilung der Sorgearbeit. Deswegen steht eine Arbeitszeitverkürzung für alle zur Debatte.  

Im Diskussionspapier zur feministischen Zeitpolitik fordern wir als GEW unter anderem eine Arbeitszeitverkürzung auf 32 Stunden pro Woche bei vollem Lohn- und Personalausgleich, eine bessere Bezahlung von Berufen im Bildungsbereich, die Anerkennung und Aufwertung von mittelbarer pädagogischer Arbeit sowie die Schließung des Gender Pay Gaps. Weitere Forderungen beziehen sich auf die Vereinbarkeit von Beruf und Familie, die Qualitätsverbesserung in der Bildung, die Anerkennung von non-formal erworbenen Kompetenzen und die Förderung von gemischten Betreuungsarrangements.

 

Visionen für bessere Zeiten

Arbeitsverdichtung gepaart mit Familien- und Freizeitmanagement und ehrenamtlichem politischen Engagement bereiten Stress. „Nicht nur den Alltag meistern, sondern ein gutes Leben für alle“, lautete das Motto und der Antrieb bei der zeitpolitischen Zukunftskonferenz der GEW „Visionen für bessere Zeiten“ im Januar 2024. Die Zukunftskonferenz verfolgte das Ziel, verschiedene GEW-Kulturen ins Gespräch zu bringen – Tarifpolitiker*innen mit Gleichstellungsbeauftragen, Wissenschaftler*innen und Sonderpädagog*innen, Studierende, Pflegende, Eltern, ... In der Zukunftswerkstatt haben alle Teilnehmer*innen ihre Kritik an der aktuellen Zeitpolitik formuliert, Utopien entwickelt und konkrete Umsetzungsschritte erarbeitet.

 

Arbeitszeitverkürzung entstigmatisieren und raus aus der teilzeitfalle

In den Impulsvorträgen von Prof. Dr. Johanna Wenckebach und Dr. Eike Windscheid-Profeta wurden zentrale Botschaften deutlich. Dr. Eike Windscheid-Profeta, Hans-Böckler-Stiftung, führte in seinen Abhandlungen aus, welcher hohe Care Gap insbesondere auf Frauen und Müttern lastet. So werde ihnen nach wie vor das Tragen von Sorgearbeit zugewiesen (nochmal zementiert durch Pandemie: ca. sieben Stunden für beschäftigte Frauen vs. ca. drei Stunden für beschäftigte Männer [DIW 2023]). Ebenso tragen sie den ungleich höheren Time Gap, der den Grund für Arbeitszeitverkürzung bei Frauen i. d. R. bedingt durch Sorgearbeitsverpflichtung darstelle (Differenz bei ca. 7,4 Stunden [IAQ  2021]). Und somit liege konsequenterweise der hohe Mental Load Gap, also die kognitive (unbezahlte) Arbeit im Haushalt, bei Frauen und insbesondere Müttern (ca. 62 Prozent vs. 20 Prozent [Lott/Bünger 2023]). Dagegen helfen können Maßnahmen, die förderlich sind, um mehr Souveränität und Selbstbestimmung in der Zeitaufteilung (zwischen Partner*innen) zu gewährleisten und reduzierte Arbeitszeiten zu entstigmatisieren.

Außerdem, so Windscheid-Profeta, würden häufig „flexible Arbeitszeiten“ für die Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben gefordert. Diese Annahme sei jedoch irreführend, erfolge Flexibilisierung doch allzu häufig nicht zur Verbesserung von Vereinbarkeit, sondern  aus betriebswirtschaftlichen Gründen (Fremdbestimmung). Das wiederum bedeute Überstunden und atypische Arbeitszeiten am Abend oder Wochenende, was Vereinbarkeitsinteressen entgegensteht.

Die Rechtswissenschaftlerin Prof. Dr. Johanna Wenckebach betonte, dass Arbeitszeitverkürzung bei vollem Lohnausgleich eine Machtfrage sei und gewerkschaftliches Handeln gefragt ist. Sie legt den Finger in die Wunde und zeigt sehr genau, dass Teilzeitbeschäftigung weiterhin von Frauen ausgeübt werde, um Sorgearbeit zu übernehmen, und eine gefährliche Falle darstelle, da dies die ökonomische und politische Autonomie von Frauen stark beeinträchtige. Sie spricht sich entschieden für Arbeitsverkürzung aller Arbeitnehmer*innen aus, nicht aber ohne die vollständige Arbeitszeiterfassung und den institutionellen Ausbau von Kinderbetreuung als konstante Forderungen zu betonen.

 

Zeit für mehr Zeit

Erhebungen und Analysen sowie Befragungen und Erfahrungen bestätigen unsere Bestrebungen, Arbeitszeit als gewerkschafts- politisches Thema prioritär zu behandeln. Aus der Perspektive der Frauen-, Gleichstellungs- und Geschlechterpolitik der GEW präsentiert sich die Arbeitszeitverkürzung (Kurze Vollzeit für alle) als wirksamer Hebel, bezahlte und unbezahlte Arbeit umzufairteilen. Wir werden nicht müde, verschiedene Modelle zu eruieren und zu diskutieren, damit wir unserem Leitsatz „Zeit zu leben, Zeit zu arbeiten“ gerecht werden.  Der beste Zeitpunkt, die Zukunft zu gestalten, ist jetzt. Los geht’s.